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Raphael Brunner


"Aus der Spur", 2010, Romanausschnitt 

 

Als Kind schickte mir mein Großvater oft Postkarten mit Motiven zu bestimmten Themen. Da er weit weg wohnte und telefonieren für ihn nur in Zusammenhang mit wichtigen Ereignissen stand - Weihnachten, Neujahr, Unfälle der Nachbarn - , war das seine Art, mit mir, seinem einzigen Enkel, in Kontakt zu bleiben. Eine Serie, an die ich mich noch genau erinnere, war die mit verschiedenen Abbildungen des hl. Georgs mit dem Drachen. Ich hing die Karten über mein Bett in Reihe und sah sie mir vor dem Einschlafen an. Die Leiber der Ungeheuer krümmten sich unter der Lanze des Drachentöters in alle nur denkbaren Richtungen. Es fiel mir nicht schwer, sie als zusammengehörende Familie zu sehen, ein Konglomerat des Bösen, nur darauf aus, der Menschheit nachts den Garaus zu machen. Da der Heilige trotz seiner Rüstung und der Waffen nicht in der Lage war, alle gleichzeitig zu besiegen, stand ich ihm nach Kräften bei. Ich trug ebenfalls eine Rüstung. Ein Pferd wie der Heilige hatte ich allerdings nie. Ich stellte mir vor, wie das Metall auf meinem Körper heiß wurde, wenn eines der Ungeheuer seinen Atem darauf blies. Ein Drache, der letzte in der Reihe, war besonders scheußlich. Seine Augen funkelten so infam, dass ich ihn mir immer erst dann vorknöpfte, wenn die anderen schon am Boden lagen. Zu meinem Glück war ich oft schon eingeschlafen, bevor ich bei ihm ankam.

Auf ähnliche Art entstand eine Landschaftsserie und eine Reihe mit Darstellungen der Infantinnen von Velazquez. Die Landschaften hängte ich so aneinander, dass aus den Hügelketten eine unwirkliche Gegend erwuchs, ein Landstrich der nur von seltsamen Wesen bewohnt sein konnte: den Drachen. Die Prinzessinnen von Velazquez hingen auch in Gruppe, aber immer ohne eine rechte Geschichte dazu. Sie starrten mich mit traurigen Augen an, und alles, was ich dabei empfand, war das Gefühl ungeheuren Glücks, keine von ihnen zu sein. Selbst der Hund auf einer der Karte mit dem Prinzen Philip Prosper wirkte so in sich gekehrt, dass ich mir sicher war, er würde nie einem Ball hinterhergelaufen sein.

Der erste Satz, wenn wir Großvater vom Bahnhof abholten: Das war eine Reise! Er murmelte es immer ohne besondere Betonung, eher wie eine Feststellung. Jetzt bist du ja da, sagte meine Mutter, wobei auch sie eher Aussage an Aussage reihte, als Gefühle durchblicken zu lassen. Sie nahm ihm den Koffer ab und schleuste uns zur Trambahn. Zu Hause angekommen, führte ihn sein erster Weg in mein Zimmer, wo ich ihm die Postkarten zeigte, die er mir geschickt hatte. Einmal tat er das sogar bevor er meinen Vater begrüßte, der in der Küche stand und ihm zu Ehren rheinischen Sauerbraten kochte. Nach dem Essen kam er wieder in mein Zimmer, schaute sich um und setzte sich langsam auf das Bett vor die Bilder. Um meinen Großvater zum Erzählen zu bringen, musste ich mir zuvor eine Frage einfallen lassen. Etwa, warum der kleine Infant Philipp Prosper ein Kleid wie seine Schwestern trug und keine Hosen. Im Laufe einer Stunde war ich in die Geheimnisse der spanischen Hofhaltung des 18. Jahrhunderts eingeweiht. Was mein Großvater nicht wusste, erfand er im nächsten Moment. Niemals wurde eine Linie gezogen zwischen Historischem und Ausgedachten. So fand sich für den vierjährigen Philipp Prosper die einfache Erklärung, der kleine Prinz und sein Hund seien so unzertrennlich gewesen, dass er sich das Kleid von seinen Schwestern lieh, um unter dem weiten Rock den Hund immer und überall verstecken zu können. Sogar bei Tisch. Und ich bekam zu hören, dass es bei dem langsamen und würdevollen Schritt, den die Königsfamilie von klein auf zu lernen hatte, ein Leichtes war, sich mit einem Hund unterm Rock zu bewegen, ohne die Aufmerksamkeit der Dienerschaft zu erregen. Nach dieser Aufklärung erkannte ich in dem ernsten Gesicht des Knaben und dem gespielt harmlosen Blick des Hundes ein glasklares Komplott. Ich sah den Vierbeiner im nächsten Moment unter das Kleid schlüpfen, und beide lachend den Raum verlassen.

Als Großvater vor zwei Jahren starb habe ich vorgeschlagen, eine von den Georgs-Darstellungen auf das Sterbebild setzen zu lassen, aber meine Mutter hat sich mit einer süßlichen Maria durchgesetzt. Es sei einfach passender, sagte sie. Ausgerechnet sie, die niemals auch nur einen Fuß freiwillig in eine Kirche gesetzt hat, es sei denn wir waren wieder einmal auf irgendeiner Italienreise und wurden von einem  Hitzschlag bedroht. Jetzt auf christliche Gepflogenheiten pochen, fand ich affig. Wieso das Bild einer Frau mit Kind auf dem Arm passender sei, fragte ich sie, Großvater habe zeitlebens mit der Familie zu kämpfen gehabt. Da eigne sich ein Bild von Georg und Drache ja wohl hervorragend.

Zur Beerdigung habe ich die Karte von Philipp Prosper rausgesucht, den Hund ausgeschnitten und auf die Rückseite geklebt. Hinter das Kleid. Ich warf die Karte in das Grab hinein. Niemand hat gefragt, was ich da mache. Lediglich eine Tante wollte anschließend beim Kaffee wissen, was auf dem Bild gewesen sei, dass ich in die Grube geworfen hätte. Ich sagte: der Prinz. Sie lächelte und nickte, wobei sie sich Hilfe suchend nach meiner Mutter Ausschau hielt.






  
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